Lesung
Samstag 16.9.2023
11:00 - 12:00
Tanzsaal

„Der Stubenvirtuose – Wenn die Welt zu sprechen beginnt“
von Max Halder

Im Zentrum des Stubenvirtuosen steht der Mitzwanziger Aaron, der zwischen all den Türen, die in die Welt hineinführen, noch auf die Seinige zu warten glaubt. Dies liegt einerseits an dem Dilemma, dass sich die Türen im Laufe seines Erwachens zu vermehren scheinen, und andererseits an den Lebenstrajektorien, die sich hinter den bereits offenen Türen immer weiter zu entfalten scheinen. Aaron kommt dabei mehr und mehr zu der Überzeugung, dass das Hineindenken und Hineinvorstellen in diese Multiplizität von Türen der Wahl einer einzigen Tür vorzuziehen ist.
Der Text lässt sich grob zwischen Coming-of-Age- und Bildungsroman einordnen und oszilliert dabei zwischen wenig Außen- und viel Innensicht. Mal sind es Beobachtungen, mal sind es Erinnerungen, die ihn Zusammenhänge sehen lassen, dann wieder einzelne Bilder und Sätze, die ihn durch die Jahrhunderte führen. Aaron ist wohl das, was Ernst Jünger einmal mit dem klugen Wort des Hochsensitiven bezeichnet
hat, die moderne Psychologie hat dafür die Pathologie des Bipolaren erfunden. Im
Stubenvirtuosen ist der schwermütige Teil Aarons in einer Krisenbewältigungsliste
materialisiert, deren Einträge das weitmaschige Textgerüst zusammenhalten. In gewisser Hinsicht bildet jene Liste den Boden, von dem aus die Selbstreflexionen, Konzepte, Analogien und dergleichen mehr ansetzen und aufsteigen können. Um es mit einem populären Wort zu sagen: Aaron hat die Füße auf dem Boden und den Kopf in den Wolken. Auf den etwa 150 Seiten folgt der Leser nun dem assoziativen Wesen Aarons bei einem Streifzug durch Themen, die sich ihm und vielen anderen in den Weg stellen: Zeit und Geld, Arbeit und Leben, Dasein und Erfahrung, Drogen und Wahrnehmung, Selbst und Andere, Wissenschaft und Kunst, Religion und Philosophie.
Um in sich die Welt sortieren zu können, benötigt Aaron Ruhe, die er in seinem
Studierkämmerchen so bekommt, wie nirgends anders. Und da Aaron viel Welt zu sortieren hat, entwickelt er sich in seinem Kämmerchen zunehmend zum Stubenvirtuosen. Er spielt gewissermaßen mit den Mitteln, die ihm dort zur Verfügung stehen – ein Habitus der Reizarmut, der ihm mit seinem hochsensitiven Gemüt zuträglich erscheint. Auch wenn die in Regensburg spielende Handlung im Grunde aus nur wenigen Exkursionen heraus aus der Stube führt, dient sie neben der Krisenbewältigungsliste als ein weiterer, in der Welt verorteter, roter Faden durch den weitläufigen Bewusstseinsstrom, der den Text kennzeichnet.
Ein probelesender Freund fühlte sich an Kafkas Prozess erinnert (nicht nur, weil ich mir erlaube eine Parabel daraus zu zitieren), meine Frau meinte hingegen Musils Verwirrungen des Zögling Törleß aus mir sprechen zu hören. Ich persönlich würde beiden zur Antwort geben: „Na nen bisschen moderner ist es ja schon, nicht?!“, worauf sie dann wieder sagen würden: „Joa, nen bisschen mehr Gelehrsamkeit und Witz hat es schon, aber ist ja auch von dir.“

Über Max Halder

Psychopharmakologe – Übersetzer – Schriftsteller

Max hat von 2016 bis 2019 die beiden Hauptwerke der Eheleute
Shulgin – PiHKAL und TiHKAL – aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen. 2023 ist sein drittes Buch „Der Stubenvirtuose – wie man Denken überleben kann“ bei
EINBUCH in Leipzig erschienen. Max hat einen akademischen Background in Chemie, Pharmakologie, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie. Er interessiert sich für die Frage, ob und inwiefern Psychedelika, wie sie in Kakteen und Pilzen enthalten sind, die Beziehung des Menschen zu sich, zu seiner Kultur und seiner Umwelt beeinflusst haben. Was setzen wir aufs Spiel, wenn wir dieses Stück Natur aus der Gesellschaft verdrängen, wie wir es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend gemacht haben?